Überblick
Für wen?
Wann?
Wieviel?
Muskel 1: Kultivierung von Vertrauen
Vertrauen ist die Hefe im Brot der Selbstorganisation: Ohne geht’s nicht. Vertrauen lässt sich am besten als Prozess beschreiben – sowohl in Bezug auf biografische Erfahrungen, die den eigenen vertrauensvollen oder argwöhnischen Blick auf die Welt und Menschen prägen, als auch auf konkrete Interaktionen, in denen Vertrauen wächst oder erodiert.
Vertrauen entsteht vor allem durch positive Interaktionserfahrungen. Es wächst, wenn Vereinbarungen eingehalten werden und Handeln konsistent ist. So kann aus einem Vertrauensvorschuss schrittweise eine starke vertrauensvolle Beziehung erwachsen. Wo Vertrauen fehlt oder noch nicht trittsicher genug ist, braucht Zusammenarbeit stützende Rahmen, transparente Strukturen und Spielregeln. Individuell beginnt Vertrauen mit der Frage „Wann und wie fühle ich mich sicher?“ (z.B. um meinen Kolleg:innen in ihrer Rollenverantwortung zu vertrauen oder eine „safe enough to try“ Entscheidung einzugehen).
Muskel 2: Souveränität in Rauhen Gewässern
Die Praxis der Selbstorganisation betrachtet Spannungen als notwendigen Treibstoff für Entwicklung. Holacracy definiert sie etwa als „Lücke zwischen der aktuellen Realität und einem wahrgenommenen Potenzial“. Die regelmäßige formalisierte Bearbeitung von Spannungen garantiert die kontinuierliche Anpassung und Weiterentwicklung des selbstorganisierten Systems.
Auch Entscheidungen kommen in Kontexten geteilter Führung nicht ohne Spannungstoleranz und Konfliktbereitschaft aus. Teams mit starkem sozialem Wertehintergrund kultivieren oft ein Dogma der Harmonie. Dies verringert das Potenzial kollektiver Kreativität und führt zu Schwächen in der Entscheidungsfindung: Ideen und Beiträge bleiben nebeneinander stehen, anstatt kritisch verhandelt zu werden. Optionen, die auf initiale Einwände stoßen, werden nicht weiter verfolgt. Einem friedlich-uninspirierten Status Quo wird Vorrang über eine spannungsreiche Weiterentwicklung gegeben. Spannungskompetenz kann hier wichtige Impulse geben.
Muskel 3: Selbstnavigation
S
elbstnavigation beschreibt die Kompetenz, sich selbst zu reflektieren und zu steuern. Der Weg zur Selbstorganisation erfordert eine schrittweise Verlagerung von äußeren Strukturen hin zu innerer Kompetenz und persönlicher Entwicklung als Quelle von Stabilität. Der Muskel der Selbstnavigation ist dabei zugleich Voraussetzung und Produkt dieses Prozesses. Er fußt auf der Ortskenntnis unserer inneren Landschaft und bedingt die Fähigkeit, sich der Werte und Grundhaltungen des eigenen Handelns bewusst zu sein, auf Entwicklungsimpulse einzulassen und dabei zugleich die eigenen Grenzen zu respektieren.
Während hierarchische Organisationen oft Belastungen durch Entfremdung und Fremdsteuerung mit sich bringen, besteht die Belastung im Kontext von Selbstorganisation häufig darin, ein gesundes Maß an Engagement und Selbstfürsorge zu finden und sich der Tragweite des eigenen Agierens bewusst zu sein, da wir nicht nur für uns selbst, sondern für das Große Ganze mitverantwortlich sind.
Muskel 4: Handlungsfähigkeit in Komplexität
Handlungsfähigkeit in Komplexität ist eine der Metakompetenzen unserer Zeit. Sie verbindet Komplexitätsbewusstheit (Complexity Consciousness), also die Anerkennung der nicht-linearen dynamischen Qualität sozialer Prozesse, und Komplexitätskompetenz – die Fähigkeit, mit dieser Qualität zielgerichtet umzugehen. Wo mehrschichtige Wechselwirkungen in Systemen aufeinander einwirken, kommen Vorhersagbarkeit und Steuerbarkeit an ihre Grenzen. Zugleich ist deutlich, dass Lebendige Systeme sich nach bestimmten Regeln selbst steuern. Je besser wir diese Muster verstehen, desto eher gelingt es uns, in Komplexität handlungsfähig zu bleiben.
Die Relevanz dieses Muskels für die Navigation selbstorganisierender Systeme hat vor allem mit der dynamischen und dezentralen Natur der Selbstorganisation zu tun: Während jede formale Struktur Komplexität reduziert, lässt die dynamische und dezentrale Konfiguration selbstorganisierender Systeme und ihr Bekenntnis zur Ganzheitlichkeit (bring your Self to work!) die Komplexität des sozialen Raums weitgehend bestehen.
Muskel 5: Alignment Ability
Alignment ist ein schillernder Begriff, der sich am ehesten mit „gemeinsamer Ausrichtung“ übersetzen lässt. Dabei bezeichnet Alignment keine Gleichschaltung, sondern eine selbstgesteuerte Ausrichtung, ein Sich-Ausrichten an einem gemeinsamen Sinn und Ziel. Wo Alignment gelingt, werden Teams kollektiv handlungsfähig und finden ihren Groove. Wo es stockt, rumpelt es im System und Impulse laufen chaotisch durcheinander. Studien über High Performing Teams legen nah, dass Alignment eine wesentliche Zutat gelingender Zusammenarbeit ist. Alignment Ability ist die kollektive Fähigkeit, diese gemeinsame Ausrichtung immer wieder neu herzustellen.
Für gelingende Selbstorganisation müssen die dezentrale Eigendynamik von Rollen und die ganzheitliche Ausrichtung des Systems miteinander in Balance gebracht werden. Die Divergenzen zwischen der individuellen und der kollektiven Zielebene und die daraus entstehenden Spannungen sind in der Selbstorganisation Motor von Entwicklung. Wenn sie keinen Raum haben und nicht zelebriert werden, ist das System zwar ausgerichtet, aber nicht lebendig.
Muskel 6: Showing Up
Showing Up bezeichnet eine Handlungsqualität, bei der eine Person für etwas einsteht und sich damit zeigt. Die Qualität verleiht der Handlung Prägnanz und Strahlkraft. Charakteristisch sind dabei drei Aspekte: Purpose (das Handeln ist verankert und konsistent mit dem eignen Werte- und Zielbild), Verantwortlichkeit (das Handeln gründet in der Übernahme von Verantwortung und macht Commitment sichtbar) und Präsenz (das Handeln ist auf das Hier und Jetzt bezogen, wahrhaftig und authentisch. Das Eintreten für die Sache wird verkörpert).
In selbstorganisierten Teams sind die Rollen von Führen und Folgen verteilter und dynamischer als in hierarchischen Settings. Es geht dabei um einen Balanceakt zwischen inneren und äußeren Impulsen. Die Bewusstheit fürs Innere, das Spüren und Vertrauen in unsere Intuition, steht dabei der Wahrnehmung und Deutung des sozialen Feldes und der Impulse in unserer Umwelt gegenüber. Wenn wir den Kontakt zu einer der beiden Seiten verlieren, wenn eine Welt dominiert oder wenn die Grenze zwischen ihnen verfließt, wird unser Showing Up unrund.
Muskel 7: Resonanz in Beziehungen
In der Physik bezeichnet Resonanz das Mitschwingen eines Körpers mit einem anderen. Die Beschaffenheit des resonanten Körpers bestimmt darüber, bei welchen Frequenzen er in besonderer Weise mitschwingt. Resonanz ist dabei stets ein wechselseitiger Prozess: Das Mitschwingen wirkt auch auf die auslösende Quelle der Schwingung zurück. Im Kontext menschlicher Erfahrung entsteht Resonanz durch eine lebendige, tiefgehende Beziehung zwischen Einzelnen und ihrer (sozialen, physischen oder symbolischen) Umwelt. Resonanz in Beziehungen wird dabei insbesondere durch Empathie gestärkt – die Fähigkeit, sich in eine andere Person einzufühlen und ihre emotionale Situation nachzuvollziehen.
Selbstorganisierende Systeme steuern ihr Binnenklima durch Co-Regulation – durch Bezugnahme und wechselseitigen Einfluss von Handlungen und Emotionen zwischen den Beteiligten. Resonanzfähigkeit und Empathie sind essenzielle Voraussetzungen dafür, dass dies gelingt. Auch wo interne Entwicklung wie beim spannungsbasierten Arbeiten formalisierte Praktiken hat, ist Resonanzfähigkeit hilfreich.
Hosts
Lysan Escher
